Prima Klima – Daten sei Dank

Der Klimawandel ist Realität und die Beteiligung des Menschen daran steht außer Frage. Für ein klimafreundlicheres Leben in unserer Stadt hat Darmstadt ein Klimaschutzkonzept entwickelt, das vielfältige Projekte und Maßnahmen bündelt und kontinuierlich fortentwickelt wird. Das in diesem Zuge entstandene städtische Klimagutachten zeigt sommerliche Hitze-Inseln sowie entlastende Kaltluftgebiete. Es ermöglicht eine Stadtplanung unter Aspekten des Klimaschutzes und der Klimaanpassung.

Auch fünf Projekte der Digitalstadt Darmstadt könnten langfristig zur Verbesserung des städtischen Klimas beitragen. Sie alle nutzen die Wissenschaftsstadt als Reallabor, um Technologien zu erproben, zu verfeinern und Erfahrungen mit ihrer Nutzung zu sammeln.

Viele Umweltdaten ergeben ein genaueres Bild​

Da ist zum einen die stadteigene Umweltsensorik. Ihr Grundgedanke: Die bisherigen lediglich zwei Messpunkte des Hessischen Landesamtes für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG) an der Hügelstraße und in der Rudolf-Müller-Anlage am Woog geben keinen detaillierten Überblick über die Klimasituation im gesamten Stadtgebiet. Zudem braucht die dafür eingesetzte Technik viel Platz. Sie ist in großen Containern untergebracht und liefert ihre Daten in zu großen Intervallen. Deshalb hat die Stadt begonnen, ein eigenes Netz an digitalen Umweltsensoren zu installieren. Sie beanspruchen deutlich weniger Platz und messen nun nicht nur an den neuralgischen Punkten an der Heinrichstraße, Hügelstraße und Kasinostraße die Luftqualität, sondern auch an weiteren 13 Standorten im gesamten Stadtgebiet, unter anderem an stark frequentierten Verkehrsknotenpunkten. „Dafür brauchen wir nur einen 230-Volt-Anschluss und ein Mobilfunknetz und sie können daher sehr mobil, je nach Fragestellung, eingesetzt werden“, erklärt Ralf Tank, Mitarbeiter des Mobilitätsamtes. Mit eigenen SIM-Karten ausgestattet, senden die Sensoren über den Mobilfunkstandard UMTS im Minuten-Abstand ihre Umweltdaten an die Analyse-Plattform der Stadt.

Der City Tree reinigt, kühlt und misst

Ganz in der Nähe der Umweltsensoren surrt vor dem Darmstadtium ab und zu leise der CityTree des Berliner Start-ups Green City Solutions und sorgt für ein besseres lokales Mikroklima. Seit Herbst 2019 steht er dort und filtert mit seinen Moos-Modulen bis zu 3.500 Kubikmeter Luft pro Stunde. Das entspricht der Atemluft von bis zu 7.000 Menschen, die er von Feinstaub befreit. Denn die Moose leben von dem, was für Menschen als Umweltgift gilt. Mit ihren feinen Verästelungen ist ihre Oberfläche zudem viel größer als die beiden gut zwei Mal zwei Meter großen Flächen ihrer Trägermodule.


„Die Entwickler von CityTree züchten die Moose selbst in eigenen Gewächshäusern und passen die Zusammensetzung den jeweiligen klimatischen Bedingungen des Aufstellungsortes an“,

erläutert Rainer Wallura von T-Systems, in dieser Sache Projektpartner der Digitalstadt. Über die genaue Zusammensetzung schweigen sich die Entwicklungsingenieure Florian Kießling und Mathias Brandt aus, als sie den CityTree in Darmstadt aufbauen. Zwei Mechatronik-Studenten, die den Aufbau in ihrer Vorlesungspause verfolgen, finden es trotzdem „cool, mal so eine Sache in der Anwendung zu sehen“.

Die Moose verbreiten mit ihrer Verdunstung eine angenehme Kühle und senken die Umgebungstemperatur um bis zu drei Grad Celsius – was insbesondere im Sommer zum Verweilen auf den beidseitigen Bänken einladen dürfte. Hinter den Filter-Platten und der Holzverkleidung steckt zudem jede Menge Technologie. Für ein ideales Wachstumsklima messen Sensoren die Luftfeuchtigkeit und setzen die Bewässerung in Gang, wenn sie unter 90 Prozent fällt. Dann blasen Ventilatoren leise feinsten Nebel gegen die Moos-Filter. Laut T-Systems kühlt der CityTree so gut wie eine 1,7-Kilowatt-Klimaanlage, bei nur zehn Prozent des Energiebedarfs. Sein Prototyp braucht Wasser- und Stromanschlüsse. „Für die Zukunft ist auch ein Autarkie-Modell mit großem Wassertank und Solarpanels geplant“, berichtet Wallura.

Stark, wo Stadtgrün nicht wachsen kann oder darf 

Moderne IoT-Technologie macht den CityTree für die Digitalstadt interessant. In Echtzeit übermittelt sie Leistungs- und Zustandsinformationen des Luftfilters und Klimawerte der Umgebung. „Diese Daten werden der Stadt zur Verfügung gestellt“, sagt Daniel Pfeffer von der HEAG, die von Seiten der Stadt das Projekt betreut. Zudem können lokale WiFi-Hotspots für eine bessere Konnektivität in der City aufgebaut werden. Auch der CityTree kennt Jahreszeiten: Drohen Minusgrade, wird seine Bewässerung abgestellt – dann stellen ja auch „echte“ Pflanzen ihre Aktivitäten ein.

Warum pflanzt man nicht gleich einen Baum auf den Platz vor dem Darmstadtium? „Wir befinden uns hier über der Tiefgarage. Ein Baum dieser Größe dürfte hier niemals gepflanzt werden“, erklärt Pfeffer. Der CityTree sei auch nicht als Alternative zum Stadtgrün gedacht, „aber es gibt Stellen wie diese hier, wo man nicht einfach etwas pflanzen kann“. Green City Solutions sammelt auch mit dem CityTree in Darmstadt Erfahrung, damit der Prototyp im Jahr 2020 in Serienproduktion gehen konnte. Weitere Anwendungen sind bereits in der Entwicklung. „Nach gleichem Vorbild gibt es kleine Würfel für den Schreibtisch, mit denen das Büroklima verbessert werden kann“, berichtet Wallura von vielversprechenden Entwürfen. Auch die Fortentwicklung zu Paneelen für Fassaden oder Unterführungen sei denkbar. „Deswegen freuen wir uns, dass Darmstadt so ein experimentierfreudiges Pflaster ist und hier Zukunftstechnologien erprobt und weiterentwickelt werden.“

Bild: rfw. kommunikation
Bild: rfw. kommunikation

„In Darmstadt entstanden, in Darmstadt zur Marktreife gebracht“

So beschreibt Holger Ebling, Projektleiter bei der Deutschen Telekom, das digitale Messnetz für Luftschadstoffe der Telekom, das mit dem Umweltamt der Stadt entwickelt wurde und derzeit in Darmstadt erprobt wird. Für dessen 17 Messpunkte nutzt die Telekom ihre eigene Infrastruktur. Unscheinbar steht eine Vielzahl grauer Kästen an den Straßen im Stadtgebiet: Die sogenannten Multifunktionsgehäuse (MFG) versorgen die Haushalte mit Telefonanschluss und Internet. In ganz Deutschland gibt es mehr als 100.000 davon. Ihr Vorteil: Sie bieten einen Stromanschluss. Das brachte Mitarbeiter am zweitgrößten Standort der Telekom in Darmstadt auf die Idee, sie für eine flächendeckende Luftgütemessung zu nutzen: Nach der Erprobungsphase in der Wissenschaftsstadt könnten Tausende von Messpunkten bundesweit ein detailliertes Bild der Klima- und Luftschadstoffsituation in Deutschland zeichnen. Das Modul für die sensible Messtechnik entwickelte das Fraunhofer Institut für Integrierte Schaltungen IIS in Coburg. Die Messung erfolgt rein elektrochemisch und ist in Anschaffung und Unterhalt laut Ebling 90 Prozent günstiger als die bislang übliche Container-Messtechnik mit nasschemischen Verfahren.

Unscheinbar wie die MFG selbst, ist die gesamte Messtechnologie seitlich daran in grauen Säulen untergebracht. Ein Ventilator saugt die Straßenluft durch ein Lochgitter in 1,60 Meter Höhe und führt sie an den Messfühlern vorbei. Diese bestimmen elektrochemisch ihren Gehalt an Stickstoffmonoxid (NO), Stickstoffdioxid (NO2), Ozon und Feinstaub. Die zwölf Messstellen im Stadtgebiet und fünf Messpunkte im Umland liegen an Hauptverkehrsstraßen und ruhigen Seitenstraßen. „Wir wollen auch erkennen, wie sich die Schadstoffbelastung ausbreitet und sich durch verschiedene Umwelteinflüsse verändert“, erklärt Ebling.

Die neuartige Technologie zur elektrochemischen Luftgütemessung ist derzeit noch in der Zertifizierung durch den TÜV Rheinland. Über LTE werden aber schon jetzt die Messwerte der Sensoren im Fünf-Minuten-Takt ins Datacenter der Telekom gesendet und in Echtzeit der Stadt Darmstadt bereitgestellt. „Die Daten, die im Rahmen der Erprobung generiert werden, gehören der Stadt“, betont Ebling. Auf der städtischen Open-Data-Plattform fließen sie mit den Werten der städtischen Umwelt- und Verkehrssensoren zusammen. Das ermöglicht ein genaueres Bild, um Zusammenhänge zwischen Verkehrsaufkommen und Luftbelastung zu erkennen. Bezieht man Wetterdaten wie Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Windrichtung und -stärke in die Betrachtung ein, ließen sich Prognosen für die Luftbelastung bei bestimmten klimatischen Bedingungen zu bestimmten Tageszeiten an speziellen Wochentagen erstellen.

Station des Luftgütemessnetzes. OB Jochen Bartsch, Sozialdezernentin Barbara Akdeniz und Markus Keller (Senior Vice President Smart City, Dt. Telekom AG).
Station des Luftgütemessnetzes. OB Jochen Bartsch, Sozialdezernentin Barbara Akdeniz und Markus Keller (Senior Vice President Smart City, Dt. Telekom AG).

Klima-, Wetter- und Verkehrsdaten lenken den Verkehr

Um das Gesamtbild noch zu verfeinern, erweitert derzeit die Stadt ihr Netz aus Verkehrssensoren: An 14 Ein- und Ausfallstraßen werden bis Ende 2020 rund 40 Infrarotkameras und zusätzliche Schleifen im Straßenbelag installiert, die über das stadteigene Glasfasernetz ihre Daten ebenfalls in Echtzeit auf die Open-Data-Plattform schicken. Ralf Tank vom Straßenverkehrsamt: „Wir möchten wissen, wie viele Fahrzeuge aus welcher Richtung und mit welcher Geschwindigkeit in die Stadt hinein- und hinausfahren und welcher Wagentyp wie schnell unterwegs ist.“ All diese Erkenntnisse sollen zu einer anderen Art der Verkehrserfassung und -lenkung zum Wohle des Menschen und der Umwelt führen. Tank: „Wir wollen weg von einer reinen Zeitsteuerung zu einer umweltsensitiven und ereignisorientierten Lenkung des Verkehrs.“

Wenn alles nach Plan läuft, könnte schon Ende 2022 ein intelligentes Verkehrsleitsystem in der Lage sein, aufgrund der Wettervorhersage und des zu erwartenden und tatsächlichen Aufkommens die Fahrzeuge so durch die Stadt zu lenken, dass ihre Abgase die Luft so wenig wie möglich belasten. „Bisher beruhte unsere Verkehrslenkung immer auf statistischen, historischen Annahmen“, so Tank. „Künftig wissen wir aufgrund von Echtzeitdaten, was auf der Straße los ist, und können zeitnah reagieren.“ Dann wird etwa die Umweltdatenbank bei Überschreitung von Grenzwerten eine automatische Meldung schicken, damit die Fahrzeugströme entsprechend gelenkt, beschleunigt oder ausgebremst werden können. Dafür wurden 22 Strecken im Darmstädter Stadtnetz und vor allem auf den Ein- und Ausfallstraßen definiert, die sich individuell, je nach Ereignis, schalten lassen. „Wir können dann dem öffentlichen Nahverkehr mehr Vorrang geben oder mit längeren Grünphasen den Fluss auf den Hauptverkehrsstraßen beschleunigen“, nennt Tank mögliche Szenarien. „Was wir aber wirklich machen und wie wir die Verkehrsströme lenken, das entscheidet die Politik.“

Verkehrsleitsystem Darmstadt

Mit einem separaten, unabhängigen Netz steuert Darmstadt seine Verkehrsströme. 175 Ampeln mit eigener IP-Adresse schicken bis zu 20 Datensätze pro Sekunde über modernste Glasfaser-Leitungen, über die auch 360 thermische und Infrarot-Kameras ihre Bilder an die beiden Hochleistungsrechnern schicken, die gemeinsam den Server darstellen.

Die zwei unscheinbaren Betonkästen stehen irgendwo im Stadtgebiet, bilden alle Daten ab und sichern sich so gegenseitig: Fällt der eine aus, stellt der andere unbemerkt sicher, dass rund 95.000 Einpendler, 25.000 Durchpendler und insgesamt rund 163.000 Menschen, die täglich in der Stadt unterwegs sind, auch in Bewegung bleiben. Es braucht aber auch ein derart autarkes und starkes System, damit für die moderne Verkehrssteuerung Daten in Echtzeit fließen – und auch Verkehrs-Apps sind nur hilfreich, wenn ihre Datengrundlage die Realität in Echtzeit abbildet.

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